Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Dezember 2020

Gewesen: NOW!-Festival in Essen

Extra: Wolfgang Rihm beim ZeitGenuss-Festival in Karlsruhe

Angekündigt: Shinytoys-Festival in Mülheim

 

[NOW!-Festival in Essen]

 

Heutzutage Festivals zu planen ist keine einfache Aufgabe. Leicht kann es passieren, dass – wie in Donaueschingen – akribische Um- und Vorausplanungen im letzten Moment ausgebremst werden. Das Essener NOW!-Festival ist diesem Schicksal mit knapper Not entgangen: Das Auftaktwochenende vom 30.10. bis 1.11. konnte wie geplant vor Publikum stattfinden, während die Folgeveranstaltungen teils gestreamt teils verschoben wurden. Das diesjährige Festivalmotto 'Von fremden Ländern und Menschen' (benannt nach dem ersten Stück aus Schumanns Kinderszenen) erwies sich als Fluch und Segen zugleich. Einerseits scheiterte die Mitwirkung von Menschen aus fremden Ländern teilweise an den aktuellen Reisebeschränkungen, andererseits bot sich uns zwangsweise Daheimgebliebenen die Möglichkeit zu einer musikalischen Weltreise. Denn die Menschen aus fernen Ländern sind längst hier und das Spiel mit dem Fremden, die Suche nach der eigenen Identität und die Lust an Grenzüberschreitungen beschäftigt die moderne Kunst und Musik seit ihren Anfängen. Konzerte mit zeitgenössischer Musik sind ohne Komponistinnen und Komponisten mit Migrationshintergrund kaum vorstellbar. Oft unterscheidet sich ihre musikalische Sprache allerdings kaum von der ihrer europäischen Kollegen, denn viele sind bereits in ihren Heimatländern mit westlicher Klassik aufgewachsen und haben ihre Ausbildung anschließend in den Zentren der europäischen Avantgarde fortgesetzt. Der Blick auf die eigene Herkunft erfolgt häufig erst aus der Ferne, denn, wie Elnaz Seyedi es formuliert: „Man braucht Abstand, um sehen zu können“. Im Konzert mit der Musikfabrik erklang ihr neues Werk fragments inside, in dem riesige, von Harry Partch entwickelte Saiteninstrumente zum Einsatz kommen, deren ungewöhnliche Stimmung Seyedi an persische Musik erinnert. Neben ihr waren mit Malika Kishino (*1971), Unsuk Chin (*1961) und Younghi Pagh-Paan (*1945) weitere bekannte Namen der Neue Musik-Szene vertreten, deren musikalische Sprache bei aller Individualität fest in dieser verwurzelt ist. Daher war es besonders spannend, in Essen auch unbekannte Namen und andere Ansätze kennenzulernen. Im Werk des jungen türkischen Komponisten Mithatcan Öcal (*1992) Belt of Sympathies klingen volkstümliche Melodien an (im ersten Satz ein Wiegen-, im zweiten ein Trauerlied), die jedoch nicht folkloristisch ausgestellt oder – schlimmer noch – mit westlichen Harmonien glattgebügelt werden. Stattdessen sind sie atmosphärisch präsent, wie ferne Erinnerungen, mehr spür- als greifbar, sich auflösend in einer sensiblen Orchestersprache, die im dritten und letzten Satz in turbulente Wallungen gerät. Neben Pagh-Paan (Lebensbaum III) und Öcal, der 2019 mit dem Komponisten-Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichnet wurde, kam in dem Konzert mit dem WDR Sinfonieorchester auch ein Werk von Claude Vivier zu Gehör, der, selbst zeitweilig in Asien lebend, in Zipangu ein mythisches Japan beschwört.

Drei sehr unterschiedliche Werke brachte das E-Mex Ensemble zur Uraufführung: Füsün Köksal lässt in quelle'd eine Bassdrum-Figur in sieben kurzen Abschnitten verschiedene Aggregatzustände durchlaufen, die von 'hektisch' und 'energetisch' über 'mächtig und beharrlich' bis zu 'müde und ohne Energie' reichen. Zaid Jabri, der in seiner Heimatstadt Damaskus sowie in Krakau studierte, will sich ausdrücklich nicht in Ost-West-Schubladen einordnen lassen und integriert in Hemispheres das gleichnamige Gedicht der New Yorker Dichterin Yvette Chrisiansë in Form eines Sprechgesangs und Dima Orshos The Soul of Places – Places of the Soul ist mit den von Hasti Molavian angestimmten einschmeichelnd-klagenden Gesängen eher in der Weltmusik-Szene zu verorten.

Die Vielfalt aktueller Kompositionsansätze kommt auch in Önder Baloglus Projekt Unvoiced Diaries zum Ausdruck. Baloglu, Geiger und Konzertmeister der Duisburger Philharmoniker, lud 24 türkische Komponisten aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt ein, ein Werk für Solo-Violine mit einer maximalen Länge von einer Minute zu komponieren, wobei sie sich ausdrücklich „mit der durch die Coronakrise in den Konzertsälen entstandenen Stille auseinandersetzen'“ sollten. Die meisten zeigten sich allerdings recht gesprächig, in mal konventionellem, mal avanciertem, mal jazzigem Dialekt.

Ich beziehe mich hier auf die Live-Konzerte des ersten Wochenendes, aber wie erwähnt ging es im November digital weiter. Folgende Veranstaltungen wurden gestreamt und sind weiterhin auf dem Youtube-Kanal der Essener Philharmonie verfügbar: der Auftritt des Ensembles S 201, Órganos mit Bernhard Haas und Studierenden der Folkwang Uni sowie die Klanginstallation Sound Scapes around the World. Das für das Museum Folkwang geplante Konzert mit Klassikern der Neuen Musik wurde bereits im Sommer mit leicht geändertem Programm in der Folkwang Universität aufgenommen (Teil 1 und Teil 2) und das Konzert mit dem Radio Filharmonisch Orkest unter der Leitung von Markus Stenz ist in der Mediathek des niederländischen Radiosenders NPO Radio 4 nachzuhören. Das dritte Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker mit Alexej Gerassimez wird am 12.2.2021 vom WDR ausgestrahlt, das Konzert Afro-Modernism mit dem Ensemble Modern ist am 20.12.20 im Deutschlandfunk zu hören, der Auftritt des Ensembles Splash – Perkussion NRW wird in der kommenden Spielzeit nachgeholt und ab 25.11. präsentieren die Mitwirkenden des NOW!-Schulprojekts Sound Lab ihre Ergebnisse in digitaler Form.

 

[Wolfgang Rihm beim ZeitGenuss-Festival in Karlsruhe]

 

Bereits im Sommer habe ich mit einem Bericht über das Festival intersonanzen in Potsdam einen Blick über die Grenzen von NRW hinaus geworfen (s. Gazette September 2020). Diesmal führte mich mein Weg nach Karlsruhe, wo vom 22. bis 25.10.20 kurz vor dem erneuten Lockdown das 12. ZeitGenuss-Festival stattfand. Schon bei seiner Gründung hatte Wolfgang Rihm seine Hand und seine Ideen im Spiel und ihm ist auch der Name zu verdanken, der in für ihn typischer Weise mit den Begrifflichkeiten spielt und die Zeitgenossenschaft mit dem Genuss verknüpft. Überhaupt sind Rihm, Karlsruhe und die Neue Musik aufs engste miteinander verbunden: Er ist hier geboren und aufgewachsen, hat schon während seiner Schulzeit ein Kompositionsstudium bei Eugen Werner Velte an der Karlsruher Musikhochschule begonnen und übernahm 1985 dessen Lehrstuhl für Komposition, den er bis heute inne hat. Seit 2013 ist seine Präsenz sogar Stein geworden durch den Bau des Wolfgang-Rihm-Forums, Teil eines imposanten Neubaus, der neben dem wiederaufgebauten Renaissanceschloss Gottesaue den Campus prägt, und so war es nur folgerichtig, ihm 2020 das gesamte Festival zu widmen. Gleich zum Auftakt vermittelten zwei SWR-Dokumentationen einen sehr persönlichen Blick auf seine Person. Besonders in dem gerade erst entstandenen Beitrag Das Vermächtnis sprechen er und seine Frau auf sehr offene und berührende Weise über seine fortschreitende Krebserkrankung und ihren Umgang damit. Doch besonders durch den auch von Rihm kritisierten Titel bekommt der Film fast den Charakter eines Nachrufs und untergräbt damit Rihms eigene Haltung. Denn Wolfgang Rihm ist noch sehr lebendig, er komponiert, unterrichtet und genießt und seine Präsenz prägte das Festival. Bei allen Konzerten war er anwesend, richtete Eröffnungsworte an das Publikum, nahm an einer Podiumsdiskussion teil, moderierte das Abschlusskonzert und sprach zum Schluss in bewegenden Worten seinen Dank aus an die Stadt und die Menschen, die ihm dies alles ermöglicht haben.

Natürlich stand auch das ZeitGenuss-Festival unter dem Bann der Coronapandemie, große Werke für Orchester oder Musiktheater waren nicht programmierbar, doch man verstand es, aus der Not eine Tugend zu machen. So führte die Suche nach coronatauglichen Räumlichkeiten in die Kirchen der Stadt und die dortigen Orgeln zu Rihms Frühwerk, das gerade erst von Martin Schmeding in einer vier CDs umfassenden Edition (davon zwei Drittel als Werkersteinspielungen) vorgelegt wurde. Schon als junger Mensch verschaffte sich Rihm Zugang zu den Orgeln der Stadt, sie waren für ihn 'Ermöglichungsinstrument großen Klangs' und auch wenn dabei naturgemäß noch viel Wildwuchs mitschwingt spürt man deutlich seine Lust am Ausdruck und an der großen Geste, aber auch seine Entschlossenheit, sowohl die Tradition im Blick zu behalten als auch Neuland zu erobern. Diese Stränge vereinen sich auf kongeniale Weise in den Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre entstandenen Liederzyklen, die den Duktus romantischen Liedguts mit aggressiv-überbordender Exaltation verbinden. Der Bariton Georg Nigl, dessen Konzert mit der Pianistin Ilonka Heilingloh zu den Highlights des Festivals gehörte, kostet die verhaltenen Passagen im Wölfli-Liederbuch und den Neuen Alexanderliedern intensiv aus, so dass die eruptiven Momente um so stärker unter die Haut gehen. Im Vergleich dazu herrscht im 2015 entstandenen Zyklus Dort wie hier eine eher ruhige Grundhaltung, doch durch die siebenfache Wiederholung und immer wieder neue Ausleuchtung eines einzigen Heine-Gedichtes, entwickelt sich unterschwellig eine insistierende Dringlichkeit. In Vermischter Traum (2017) können die Texte von Andreas Gryphius („Ich bin nicht, der ich war, die Kräfte sind verschwunden,....,ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden.“) auch als Auseinandersetzung Rihms mit der eigenen Krankheit und Endlichkeit gelesen werden, die er jedoch nicht in klagende geschweige denn anklagende, sondern noch immer kraftvolle Töne überträgt.

Rihms Kreativität zeichnet sich durch ein netzartiges Wuchern aus, bei dem Ideen, Klänge, Menschen, Worte, Bilder auf unvorhersehbare und doch stimmige Weise zusammenfinden. Sein 'gesamtästhetisches Organ' schlägt Brücken zu Literatur und bildender Kunst und durch sein Œuvre mäandern sich verzweigende Abstammungsketten, bei denen ein Werk durch Überschreibung oder Übermalung eines anderen entsteht. In Geste zu Vedova für Streichquartett (2015), interpretiert vom Kölner Asasello Quartett, transformiert er die kraftvollen Setzungen des italienischen Malers in heftige, wie hin gepeitschte Striche. Gejagte Form, das in einem Konzert mit der Badischen Staatskapelle unter der Leitung von Gerhard Oppitz erklang, ist Teil des Werkkomplexes Jagden und Formen. In der Literatur faszinieren ihn vor allem die 'nicht Geheuren' wie Wölfli, Lenz, Herbeck und Artaud, doch er betont ausdrücklich, dass sie ihm nicht zu Lebensvorbildern wurden; er ließ sie durch sich hindurchgehen, ohne sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Offenbar verfügte er schon früh über einen inneren Bezugspunkt, der es ihm ermöglichte, bei aller Offen- und Durchlässigkeit sein Eigenes zu gestalten und zu bewahren. Zeitweilig faszinierte ihn die Linie, die Horizontale, die in Über die Linie I für Violoncello (Lukas Fels) und Über die Linie VII für Violine (Tianwa Yang) sich scheinbar ohne Anfang und Ende verströmt und um sich selbst kreist. Sie zieht sich wie ein roter Faden auch durch das Konzert der aktuellen Kompositionsklasse von Markus Hechtle und Wolfgang Rihm, bei dem vieles noch sehr vorsichtig und konventionell klingt. Der Titel Bagatellisierungen eines Klavierzyklus von Haosi Howard Chen geht gar auf einen Alptraum zurück, in dem ein strenger Zensor mit dem Verdikt 'nicht experimentell genug' droht. Einzig Alexander Pilchen schert aus mit seinem Stück Quintessenz für Violoncello, Klavier und Video, in dem rabiate Töne und skurrile Texte auf ironisch-verklausulierte Weise das Lehrer-Schüler-Thema anklingen lassen.

Wohin das noch führen kann, zeigte besonders eindrucksvoll das Abschlusskonzert, in dem Studierende der Musikhochschule unter der Leitung von Peter Tilling Werke von Markus Hechtle, Rebecca Saunders, Vito Žuraj und Márton Illés interpretierten, die alle vier bei Rihm studiert haben und von denen jeder seine eigene Sprache gefunden hat. Rihm hat nicht nur in seinem eigenen Werk sondern auch in seinem Umfeld fruchtbare Samen gesetzt, es bleibt zu hoffen, das ihm dies noch lange vergönnt ist.

 

[angekündigt]

 

Wie es aussieht werden wir auch den Rest des Jahres auf Live-Konzerte verzichten müssen und da mich auch der erneute Lockdown nicht so recht in die Online- und Streaming-Welt locken konnte, verzichte ich darauf, hier entsprechende Hinweise zu geben. Ein kleiner Tipp sei mir aber doch gestattet: Das im Makroscope in Mülheim an der Ruhr beheimatet shinytoys-Festival geht unter dem Motto „Digital ist besserer“ online und lädt ein, „to guide robot avatars through the rooms from home. Chaotic robot clackers, digital and mechanical heat replacements, fender damage and error messages included“ Wer sich also nicht nur berieseln lassen sondern „an active participant in a constantly evolving audiovisual composition“ werden möchte, kann sich am 4.12. einklinken.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW