Gazette Neue Musik in NRW - Ausgabe Juni 2018

Gewesen: Wittener Tage für neue Kammermusik – Achtbrücken-Festival in Köln

Angekündigt: Raumklänge in Pulheim-Stommeln und Leverkusen – Romanischer Sommer – The Suitcase in Moers u.v.a.m.

 

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[Wittener Tage für neue Kammermusik]

 

Bereits zum 50. Mal fanden vom 27. bis 29.4. die Wittener Tage für neue Kammermusik statt, doch man ließ sich nicht von Jubiläumsbrimborium ablenken, sondern ging gleich in medias res. Während landauf landab neue Konzeptmusik und Diesseitigkeiten sprießen und man sich vielerorts ohne multimediales Beiwerk kaum noch blicken lassen kann, hält Harry Vogt als verantwortlicher Redakteur des WDR und künstlerischer Leiter des Festivals unbeirrt die Fahne der Neuen Musik hoch. In Witten wird an komplexen Klangstrukturen und diffizilen Instrumentationen gefeilt.

Diesen Ansatz verkörpert in besonderem Maße der deutsch-französische Komponist Mark Andre, dem in diesem Jahr ein Schwerpunkt gewidmet war. Seine Musik kreist um das Dazwischen, die Schwelle, das Innerliche und ist, wie er in einem Gespräch mit Martina Seeber zum Ausdruck brachte, vor allem religiös fundiert. Andre ist bekennender Protestant, doch zum Glück geht ihm alles Missionarische ab. Schon Kierkegaard wusste, dass es „etwas so Eitles [ist], zu glauben, dass ein anderer Mensch in seinem Gottesverhältnis unseren Beistand braucht, als ob Gott sich und dem Betreffenden nicht schon selbst helfen könnte.“ Jede direkte Mitteilung ist Kierkegaard zufolge ein Betrug gegen Gott, gegen sich selbst und gegen einen anderen Menschen, ein Vorwurf, den man Andre nicht machen kann. Er bleibt ganz bei den Klängen und lotet „so akribisch wie möglich“ die Zwischenräume aus; so zum Beispiel in un-fini I, einem Werk für Harfe, deren Saiten durch Präparation gedämpft werden, so dass der Nachhall dem flankierenden Schlagwerk, Tam-Tam und Große Trommel, überantwortet scheint. Der Harfenist Andreas Mildner ist auch Solist in Andres neuem Werk ...hin... für Harfe und Kammerorchester, bei dem die Musiker des WDR Sinfonieorchesters die Impulse aufnehmen und den Raum in ein fragiles Schwirren und Flirren versetzen, doch die Musik verliert sich nie in kulinarischer Selbstgenügsamkeit. Andre zitiert im Gespräch den Ausspruch Jesu „Noli me tangere“, den dieser nach seiner Auferstehung an Maria Magdalena richtet, aber bekanntermaßen wird im Zweifel auch schon mal der Finger in die Wunde gelegt und so kennt seine Musik auch harsche, geräuschhafte und eruptive Momente. Als weitere Uraufführung verwandelte Andre das Märkische Museum in ein Flüsterndes Haus. Durch Transducer an den Wänden entstehen Schwingungen, die Windgeräusche und flüsternde Stimmen übermitteln und die Räumlichkeiten in einen lebendigen Klangkörper transformieren. In dessen Innerem befinden sich die Zuhörer und der Klarinettist Jörg Widmann, der den Raum wandelnd erschließt und mit zugleich fragilen und eindringlichen Tönen eine suggestive Atmosphäre erzeugt.

Eine ganz andere Herangehensweise verfolgen die sogenannten Saturisten, eine französische Strömung, der u.a. Franck Bedrossian und Yann Robin zugerechnet werden. Ihre „musique saturée“ (gesättigte Musik) zeichnet sich durch ein besonderes Maß an „Energie, Druck, Tempo, Körperlichkeit“ aus und scheint geradezu zu explodieren. Dabei geht es Robin in seinem neuen Ensemblewerk Übergang ebenfalls um eine Grenzerfahrung, um eine Befreiung des Hörens durch eine heftig bewegte, drängende, jagende Musik, die selbst in Momenten des Innehaltens voll untergründiger Spannung ist. Sein Landsmann Bedrossian steuerte mit Epigramm I – III einen 40-minütigen Zyklus nach Texten der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson bei, an dem er fast 10 Jahre gearbeitet hat. Das Werk scheint der Sopranistin Donatienne Michel-Dansac geradezu auf den Leib geschneidert zu sein, zwischen flüsterndem Raunen und schrillen Ausbrüchen offenbart sie eine enorme Wandlungsfähigkeit und erzeugt gemeinsam mit dem Klangforum Wien eine brodelnde Spannung, die sich teils in brachialen Attacken entlädt – eine intensive Erfahrung, auch wenn Dickinson in den Wogen des Geräusch- und Expressionsfurors stellenweise unterzugehen droht. Leider gänzlich verhoben hat sich dagegen die polnische Komponistin Agata Zubel bei ihrem Versuch, der geheimnisvollen Kleopatra mit ähnlichen Mitteln zu Leibe zu rücken. Als ihre eigene Interpretin hechelt, schreit und hangelt sie sich durch die Cleopatra's Songs, doch weder ihre stimmlichen Fähigkeiten noch das Werk selbst konnten überzeugen.

Bemerkenswert war dagegen Liza Lims neues Stück Extinction Events and Dawn Chorus. Der Titel verweist auf Auslöschung und Untergang, wobei die Komponistin vor allem die durch den Raubbau an der Umwelt verursachte Gefährdung im Sinn hat, doch die Mitglieder des Klangforums Wien wirkten höchst lebendig. Womöglich angeregt durch ein vorgestelltes Shakespearezitat („Wie hielte Schönheit stand vor solcher Wucht“) fühlte ich mich auf Prosperos Zauberinsel versetzt und einem wahren Klangpandämonium ausgeliefert. Lim integriert kleine phantasievolle Szenen, die jedoch ganz in der Musik aufgehen, so zum Beispiel wenn die Geigerin die Bühne mit einer Folie im Schlepptau erklimmt und sie geräuschvoll durchs Ensemble wandern lässt. Und ähnelt der zunächst unbeholfen wirkende Schlagzeuger, den sie mit ihren Tönen verzaubert, nicht dem tumben und doch empfänglichen Caliban? („Be not afeard. The isle is full of noises ….Sometimes a thousand twangling instruments will hum about mine ears“). Schwirrhölzer, Lim aus ihrer australischen Heimat als mythisch aufgeladenes Instrumentarium der Aborigines vertraut, lassen den Raum vibrieren und so entwickelt sich ein oft turbulentes doch niemals brachiales Klanguniversum, in dem jeder Hörer sich seinen eigenen Assoziationen hingeben kann.

Dass Musik in ihrem Entstehen und Erleben vor allem ein körperlicher Vorgang ist, demonstrierte Katharina Rosenberger mit ihrer Klang- und Videoinstallation quartet, die sich im Untergeschoss des Märkischen Museums verbarg. Sie richtet den Fokus auf die nackten Rücken von vier Instrumentalisten (Schlagwerk, Klavier, Cello, Akkordeon), wobei durch eine prägnante Ausleuchtung jeder Muskel, jede Bewegung, jede Unebenheit der Haut hervorgehoben wird. So entsteht eine fast beunruhigende Nähe, die der sonst im Konzert kultivierten Distanziertheit zuwiderläuft, doch gleichzeitig sorgt die ungewohnte und ausschnitthafte Perspektive für einen irritierenden Verfremdungseffekt. Auch Ricardo Eizirik beschäftigt sich mit dem Vorgang des Musikmachens und erkundet in seinem Werk obsessive compulsive music (in Anlehnung an obsessive compulsive disorder, dem englischen Fachterminus für Zwangsstörung) die Ähnlichkeiten zwischen zwanghaftem Verhalten und musikalischen Manierismen. Die minuziös ausgefeilten mechanistischen Bewegungsmuster werden vom Trio Catch punktgenau ausbuchstabiert. Ashley Fure wiederum faszinieren gerade „diese instabilen, chaotischen Klangfarben, deren Energie ich mir zwar nutzbar machen kann, deren Entfaltung ich aber nie ganz kontrollieren kann“, was ihrem Trio A Library on Lightning für Trompete, Fagott und Kontrabass etwas Ungebärdiges und Kantiges verleiht. Der mitwirkende Kontrabassist des Klangforums Wien, Ulrich Fussenegger, ist zudem noch mit einem eigenen Projekt zu erleben, bei dem er im Haus Witten drei Mitstreiter zu einer energiegeladenen „elastischen Kollision von akustischem Spiel und Tonbandmusik“ versammelt und so ließe sich noch manches erwähnen. 2018 war ein guter Jahrgang und auch wenn, wie immer wieder betont wird, die Neue Musik sich nicht jedes Jahr neu erfindet, so bleibt doch die Lust am Hören, und Witten ist ein guter Ort, um ihr nachzugeben. 2019 findet das Festival übrigens erst Mitte Mai, vom 10. bis 12.5.2019, statt. Womöglich wollte man die Überschneidungen mit dem ebenfalls vom WDR getragenen Achtbrücken-Festival in Köln verringern.

 

[Achtbrücken-Festival in Köln]

 

Mit einem Bein noch in Witten, mit dem anderen schon in Köln – bis zum 11.5. ging es dort mit dem Achtbrücken-Festival weiter, das an den verschiedensten Orten der Stadt mehrmals täglich zeitgenössische Musik bescherte und den Neue-Musik-Junkie schon mal in die Nähe einer Überdosis bringen konnte. Im Zentrum stand diesmal Bernd Alois Zimmermann, der vor 100 Jahren im nahen Bliesheim, heute zu Erftstadt gehörend, zur Welt kam. Zimmermann drohte trotz unbestreitbarer Erfolge zu Lebzeiten zwischen die Stühle zu geraten. In der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit wirkte er fehl am Platz, die Neue Musik mit ihrer Speerspitze Darmstadt richtete den Blick nach vorne und wollte die Musik aus sich selbst heraus und auf möglichst rationaler Grundlage neu erschaffen – Tabula rasa war das Gebot der Stunde. Zimmermanns Bezugnahmen auf die Vergangenheit erschienen altbacken und gestrig, seine persönliche Prägung durch den am eigenen Leib erlittenen Krieg vor allem störend. Diese Atmosphäre veranschaulicht eindrücklich die WDR-Produktion Proszenium aus dem Jahr 1971, die Bilder des noch immer ruinösen Köln ohne weitere Kommentierung mit Interviews der damaligen Komponistenavantgarde konfrontiert. Zimmermanns Selbstmord 1970 findet praktisch keine Erwähnung, führt höchstens im ein oder anderen Fall zu einer weniger drastischen Formulierung der Ablehnung. Laut Stockhausen geht ihm jegliche Vision bezüglich des Materials ab, Hans G Helms wirft ihm ohne Umschweife affirmatives Verhalten gegenüber dem monopolkapitalistische System vor. Allenfalls mildernde Umstände will man gelten lassen, etwa die Schädigung durch das dritte Reich oder die von Kagel beklagte Enge und Steifheit im Musikhochschulbetrieb der Nachkriegsjahre. Es sind eiskalte Nadelstiche, die gegen Zimmermann und nicht minder gegeneinander gerichtet werden, in diese Mühlen möchte man nicht geraten.

Aus heutiger Sicht scheinen sich die Fronten geradezu umgekehrt zu haben. Die damalige Avantgarde gilt heute als weltfremd und verkopft, während Zimmermann fast wie der Mann der Stunde daherkommt. Sein Spiel mit Zeiten und Zitaten – ist das nicht Postmoderne avant la lettre bzw. die Welt im Zustand fortgeschrittener Digitalisierung und globaler Vernetzung? Seine Vision eines totalen und pluralistischen Theaters unter Einbezug aller verfügbaren Mittel (Musik, Ballett, Elektronik, Film, Fernsehen, Zirkus, Musical), die Bereitschaft, den Finger in die Wunde zu legen, der Kunst Realitätsbezug und Bedeutsamkeit zu sichern, und die Entschlossenheit, auch vor drastischen Mitteln nicht zurückzuschrecken – ist es nicht das, was wir heute brauchen und wollen? Selbst seine tief fundierte religiöse Prägung muss uns nicht mehr irritieren. Religion wird heute wahlweise tolerant weggelächelt oder zum staatstragenden Fundament erkoren.

Dass diese Rechnung nicht so ganz aufgeht, zeigte eindrucksvoll die Neuinszenierung seiner Oper Die Soldaten, unbestreitbar der Höhepunkt des Achtbrücken-Festivals. Zimmermanns einzige Oper kam bekanntermaßen nach zermürbenden Querelen 1965 an der Oper Köln zur Uraufführung. Die nach 53 Jahren erste Kölner Wiederaufführung fand aufgrund der Dauerbaustelle am Offenbachplatz im Staatenhaus statt, was jedoch nicht zum Nachteil geriet, da der Regisseur Carlus Padrissa (von der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus) hier frei schalten und walten konnte. Seine Bühnenlösung wirkt wie eine kongeniale Umsetzung von Zimmermanns viel zitierter Theorie von der Kugelgestalt der Zeit: Das gemeinsam mit dem Orchester im Zentrum positionierte Publikum wird von einem 360°-Panorama mit Wandelgang und Projektionsfläche umgeben, auf dem sich das ganze Geschehen abspult. Drehbare Hocker sorgen dafür, dass wir uns mobil und selbstbestimmt den vielfältigen Eindrücken und Ereignissen zuwenden können – und da gibt es eine Menge zu entdecken, denn Padrissa zieht alle Register. Soldatenhorden gekleidet in den Uniformen aller Herren, Länder und Zeiten bevölkern das Rund, marschieren und kämpfen, huren und saufen. Videoprojektionen lassen Flammen züngeln und Blut fließen. Dazwischen agieren die Protagonisten in überdrehten Phantasiekostümen (Chu Uroz), wobei das Schicksal der Bürgerstochter Marie, die angetrieben von Naivität, eigenen Ambitionen und einem ehrgeizigen Vater auf die schiefe Bahn gerät und als Soldatenhure in der Gosse landet, fast zur Nebensache wird. Marie bleibt sowohl im Stück als auch in der Inszenierung auf der Strecke. Man kann sagen, dass genau das Zimmermanns Intention entspricht. Er hat ausdrücklich betont, dass es ihm nicht um ein Mitfühlen mit den Handelnden oder vielmehr Erleidenden geht. Diese sind für ihn austauschbare Figuren in einem auf Gewalt basierenden System, das letztlich jeden zum Opfer macht und unentrinnbar ist. Doch dabei ergibt sich ein Problem: 1965 war es vielleicht noch möglich, durch die Strategie der Überwältigung das Publikum zu berühren und zu erschüttern. Heute ist der Ausnahmezustand Normalität geworden, Dauerbeschallung, Überforderung, die Konfrontation mit Gewalt, Hass und durchgeknallten Potentaten, Alternativlosigkeit, Untergangsszenarien – was schon immer in der Welt war, ist jetzt auf unseren Bildschirmen, das totale Theater ist unser Alltag und wir haben längst gelernt, uns entsprechend zu wappnen; die Lust an der Überwältigung, die Padrissa bedient, ist wie eine Droge, nach der wir verlangen, gerade weil sie längst aufgehört hat zu wirken. Er beschert uns in Köln einen beeindruckenden Abend, aber die Eindrücke gehen (wie die Bühne) nicht in die Tiefe, beulen sich schnell wieder aus. Was einst wachrütteln sollte, fungiert heute im Gegenteil als Narkotikum. Vielleicht müsste man Zimmermann, um ihm heute gerecht zu werden, gegen den Strich bürsten, vor seinem eigenen Überschwang bewahren.

Den stärksten Eindruck hinterlässt die Musik, was sowohl am hervorragenden Gürzenich-Orchester unter der Leitung von François-Xavier Roth liegt als auch an der Raumsituation, die Publikum und Musiker im Innenrund zusammenschweißt; hyperkomplexe Schichtungen treffen auf brachiale Attacken, schon zum Auftakt schlagen vorwärtspeitschende, manchmal leicht strauchelnde Paukenschläge in den Bann. Doch auch Zimmermanns Musik hinterlässt oftmals ambivalente Gefühle, zum Beispiel sein letztes Werk Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne, eine ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bass und Orchester, in der er Passagen aus Dostojewskis Der Großinquisitor sowie Verse aus dem Buch Prediger Salomo verwendet. Wenn nach einem aufreibenden musikalischen Parforceritt der Sänger Georg Nidl Zimmermanns Anweisungen zufolge „gequälte Laute des Schreckens, der Verlassenheit und der menschlichen Erbärmlichkeit“ von sich gibt, fühlt man sich eher irritiert als berührt. Das Orchester der Hochschule für Musik und Tanz beeindruckte mit einer Aufführung von Photoptosis, ein Auftragswerk der Stadtsparkasse Gelsenkirchen, das auf Yves Kleins blaue Monochrome im MIR Bezug nimmt und die opulenten Möglichkeiten des Orchesterapparats voll ausschöpft. Mir näher sind allerdings die Orchesterskizzen Stille und Umkehr, die verhallten-eindringlich um den Zentralton d kreisen. 30 Werke und Bearbeitungen aus Zimmermanns Feder kamen in Köln zu Gehör, aber mindestens genauso interessant wie die Begegnung mit ihm ist natürlich die Frage, was er uns heute bzw. den nachfolgenden Generationen noch zu sagen hat. Obwohl diese in vielen Veranstaltungen zahlreich vertreten waren (allein 17 Uraufführungen!), scheint eine unmittelbare Auseinandersetzung mit Zimmermann eher die Ausnahme zu sein. Auf eine direkte Bezugnahme stößt man ausgerechnet bei Antonio De Luca, der sich in seinen Kinks of Violence von Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter inspirieren lies. Als Ergebnis wird die Kunststation Sankt Peter eine Stunde lang mit überlauten Klangflächen geflutet, die in diesem Fall tatsächlich sehr flach ausfallen. De Luca dirigiert das von diversen Effekten und schwer verständlichen Texteinspielungen durchsetzte Geschehen als peinlich entrückter Zeremonienmeister im langen schwarzen Mantel, im Gegensatz zu Goethes Zauberlehrling bleibt er jedoch ganz gelassen, da er nicht einmal merkt, wie sehr er sich mit seinem Vorbild übernommen hat. Überzeugender war da schon das Konzert des Ensemble Garage. Auch ohne sich direkt auf Zimmermann zu berufen, verbindet die Musiker mit ihm die Entschlossenheit, sich ohne dogmatische Scheuklappen frei aus dem Fundus von Geschichte und Gegenwart zu bedienen. Sergej Maingardt z.B. lässt die gefallene Bitch Britney Spears eine wild zerhäckselte Wiederauferstehung feiern, ob hier ein kritischer Unterton mitgedacht ist, mag jeder selbst entscheiden und ist vielleicht sogar egal. Im Vordergrund steht das improvisiert wirkende, lustvolle Treiben, das auch von der unmittelbaren Publikumsnähe im katakombenartigen Studio 672 des Stadtgartens lebt. Das Ensemble electronic ID bot mit präzise getakteten, rhythmisch aufflackernden vertikalen Leuchtstoffröhren einen durchinszenierten Auftritt, der sich z.B. mit Alexander Schuberts Sugar, Math and Whips irgendwo „zwischen dem Kammermusiksaal und dem Hardcore-Club-Konzert“ bewegt. Derartige Aufführungen kann ich durchaus genießen, auch wenn sich mir die teils gesellschaftskritischen Implikationen oft erst nachträglich aus dem Programmheft erschließen (was bei Musik ja oft der Fall ist).

Als besonders eindrücklich sind mir zwei Solo-Konzerte in Erinnerung geblieben, gerade weil sie im manchmal drohenden Overkill auf Reduktion setzten. Der Kontrabassist Florentin Ginot hob neue Werke von Helmut Lachenmann, Georges Aphergis, György Kurtág, Lisa Lim und Frédéric Pattar aus der Taufe; gemeinsam mit dem Publikum auf dem Podium der Philharmonie positioniert wirkte er mit den leeren hoch aufsteigenden Zuschauerrängen im Rücken alles andere als verloren, sondern erschuf eine intensive Atmosphäre, in der jeder Ton und jedes Geräusch zur Geltung kam. Im gleichen Setting kam Rebecca Saunders modulare Solokomposition Dust zur Uraufführung. Das Werk lässt den Musikern einiges an Interpretationsspielraum, daher war es besonders erhellend, nacheinander die Versionen der Schlagzeuger Dirk Rothbrust und Christian Dierstein zu erleben. Dazwischen kam Stockhausens Zyklus Nr. 9 für Schlagzeuger aus dem Jahre 1959 ebenfalls in zwei Versionen zur Aufführung.Während Stockhausen mehr mit Strukturen und Rhythmen befasst ist, geht es Saunders vor allem um eine delikate Klangerforschung, wobei sie auch Klangschalen zum Einsatz bringt sowie diverse Materialien wie Stroh oder Scherben, denen große Pauken als Resonanzboden dienen.

Abschließend möchte ich noch den Internationalen Kompositionswettbewerb erwähnen, in dessen Finalkonzert es der Tscheche Otto Wanke (*1989), die Griechin Vasiliki Krimitza (*1989) sowie der 1988 in Hongkonng geborene Gordon Dic-Iun Fung geschafft haben. Letzterer gewann den ersten Preis mit syk stemning ved solnedgang . fortvilelse (kranke Stimmung im Sonnenuntergang . Verzweiflung). Das Werk nimmt auf ein berühmtes Gemälde von Edvard Munch Bezug und spürt den Parallelen zwischen der darin ausgedrückten Stimmung und dem Nebel von San Francisco mit dichten geräuschhaften, sich wellenförmig auf- und abbauenden Klangflächen nach. Zurückhaltender für mich jedoch nicht weniger überzeugend war Krimitzas Gra-V. Das mit dem zweiten Preis ausgezeichnete Stück widmet sich dem Phänomen der Schwerkraft, wobei die Musik nach ruhigen filigranen Passagen von einem abwärts treibenden Sog erfasst wird.

Während die Wittener Tage für neue Kammermusik sich als Uraufführungsfestival verstehen, das sich bei aller Öffnung letztlich an ein internationales Fachpublikum wendet, richtet sich das Achtbrücken-Festival in erster Linie an die Kölner und ihre Gäste. 25.000 folgten der Einladung, allein 4500 am 1. Mai, wenn traditionsgemäß der sogenannte Freihafen mit freiem Eintritt lockt. Was Bernd Alois Zimmermann betrifft, so bleibt festzuhalten, dass er sich allen vordergründigen Übereinstimmungen zum Trotz (s.o.) auch weiterhin nicht vereinnahmen lässt. Jeder kann seinen eigenen Weg zu ihm finden und das ist gut so.

 

[Termine im Juni]

 

Köln

 

In der Philharmonie stehen Werke von Penderecki und Previn am 4.6., von Lutoslawski und Widmann am 6.6., von Schnittke am 8.6., von Anthony Plog und Daniel Schnyder am 9.6., von Widmann am 11.6., von Rihm am 25.6. sowie von Minas Borboudakis und Giorgio Battistelli am 30.6. auf dem Programm und am 27.6. ist das IEMA-Ensemble zu Gast. Beim nächsten Musik-der-Zeit-Konzert des WDR am 23.6. wird ein neues Werk von Isabel Mundry aus der Taufe gehoben und am 17.6. bringt die Musikfabrik ebenfalls im WDR-Funkhaus Martin Smolkas Wooden Clouds für Ensemble mit Harry Partch-Instrumenten zur Uraufführung. In der Kunststation Sankt Peter erwartet uns außer den monatlichen Orgelimprovisationen am 3.6. und Lunchkonzerten am 2., 9., 16., 23. und 30.6. ein ON-Konzert mit dem Bux Blöckflötenquartett am 13.6.. Außerdem hat ON am 24.6. Mike McCormick eingeladen und beteiligt sich am 3.6. mit einer Performance-Installation im Museum für angewandte Kunst am Romanischen Sommer. Dieser findet vom 3. bis 8.6. statt und beinhaltet außerdem eine Klanginstallation von Christina Kubisch im Museum Schnütgen, Konzerte mit den Kölner Vokalsolisten und dem Asasello Quartett sowie eine Nacht der Stimmen.

Die Hochschule für Musik und Tanz kündigt Echos aus Montepulciano am 9.6., einen Kompositionsabend am 25.6. und einen Neue-Musik-Abend am 26.6. an, in der Kunsthochschule für Medien sind Catherine Lamb am 7.6. und Emeka Ogboh am 21.6. zu Gast und im Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Köln stellt am 8.6. Francisco López seine Arbeit vor.

Das japanische Kulturinstitut hat am 8.6. das Duo ShamiPia eingeladen, der nächste Containerklang ist für den 10.6. anvisiert, im italienischen Kulturinstitut stellt sich am 13.6. der Fachbereich 'Komposition, Musiktheorie und Improvisation' der Rheinischen Musikschule Köln vor und in der Alten Feuerwache ist am 26.6. das Ensemble Inverspace mit Flickering Shades zu erleben. Am 29.6. bahnt sich die performative Installation TONTRÆGER den Weg durch die Stadt – Ausgangspunkt ist der Chlodwigplatz – und Kinder ab 6 Jahre können sich auf die Premiere von Henzes Märchen mit Musik Pollicino am 23.6. im Staatenhaus freuen. Die reiheM hat John Bischoff und James Fei am 5.6. ins Loft und Stephen Cornford und Maria W. Horn am 18.6. in den Stadtgarten eingeladen. An beiden Orten ist auch sonst einiges los, im Stadtgarten zum Beispiel eine weitere Ausgabe der Reihe Impakt: Kontrast am 5.6., Tripclubbing mit dem Ensemble Shatabdi am 7.6. und ein Abend mit elektronischen und audiovisuellen Experimenten u.a. mit der japanischen Künstlerin Haco am 9.6.

Weitere Termine wie üblich bei kgnm.

 

Ruhrgebiet

 

Den Abschied vom Bergbau gestaltet das Ruhrgebiet unter dem Motto 'Kunst und Kohle' mit einer Vielzahl von Ausstellungen. Das Rahmenprogramm beinhaltet an verschiedenen Orten u.a. Abbauhammerkonzerte mit Christof Schläger, eine Musik-Film-Performance zum Stummfilmklassiker Germinal mit  Martin Blume, Gunda Gottschalk und Eckard Koltermann und eine musik theatralische Performance mit dem Theaitetos-Trio.

 

Beauty in Simplicity lautet am 15.6 das Motto in der Duisburger Mercatorhalle, wobei Werke von Reich, Glass, Satie u.a. zu Gehör kommen.

 

Gleich zweimal, am 1.6. und am 2.6., lädt mex ins Dortmunder Künstlerhaus und im Depot findet am 3.6. das nächste Lautsprecherkonzert statt. Im Konzerthaus stehen am 7.6. im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr Werke von André Previn und Krzysztof Penderecki auf dem Programm, am 13.6. spielt ebendort Balázs Szabó neben einem eigenen Orgelwerk Hungarian Rock von György Ligeti und im Orchesterzentrum interpretiert am 14.6. das Ensemble Saxofonietta Köln Musik von Christian Lauba.

 

Das ICEM, Institut für Computermusik und Elektronische Medien der Essener Folkwang-Hochschule, lädt am 7.6. und 28.6. zur Ex Machina-Werkstatt. In der Philharmonie kommt am 4.6. Daniil Trifonovs Quintetto Concertante als Auftragswerk des Klavier-Festivals Ruhr zur Aufführung und vom 18. bis 21.6. verwandeln die Park Sounds den Stadtgarten in eine magische Klanginsel.

 

Düsseldorf

 

Beim nächsten Konzert der Reihe 'Na hör'n Sie mal' am 8.6. in der Tonhalle widmet sich das notabu-ensemble der Schweiz (das Rückspiel findet am 15.6. in Bern statt) und ebenfalls am 8.6. stimmt der nächste Salon Neue Musik im Klangraum 61 auf die nächsten Klangräume (1. bis 8.7.) ein. Am 28.6. ist das Ensemble Tempus Loquendi in der Kunsthalle mit einem Performancekonzert mit Werken von Gerhard Stäbler und Kunsu Shim zu Gast und in der Clara Schumann Musikschule stellen am 29.6. Schülerinnen und Schüler der Kompositionsklassen ihre neuesten Werke vor.

 

Sonstwo

 

Die Aachener Gesellschaft für zeitgenössische Musik befasst sich am 1.6. in der Reihe 'Hören und Sprechen über neue Musik' mit Toshio Hosokawas Oper Stilles Meer und am 29.6. sind Johannes Lemke und Jarry Singla zu Gast.

 

Das Ensemble Earquake der Hochschule für Musik Detmold spielt am 3.6. Neue Musik in der Bielefelder Zionskirche, die cooperativa neue musik widmet den nächsten Jour fixe am 4.6. Stefan Gwiasda und dem Beatboxing und im Bielefelder Theater hat am 9.6. Rihms Oper Lenz gefördert vom Fonds Neues Musiktheater Premiere.

 

Beim nächsten Bonner Wortklangraum am 6.6. spielt Michael Denhoff die Campanula und am 24.6. ist das Ensemble Tra i Tempi im Theater im Ballhaus zu Gast. Markus Stockhausen trifft am 8.6. in der Pauluskirche auf Marcus Schinkel und Bodek Janke und präsentiert am 26.6. in der Zentrifuge das Intuitive Music Orchestra.

 

In der Detmolder Musikhochschule spielt am 10.6. das hauseigene Ensemble Earquake und am 25. und 26.6. veranstaltet die Schlagzeugklasse Werkstattkonzerte zur Erinnerung an den 10. Todestag von Mauricio Kagel. Sie sind Vorboten weiterer Aktivitäten zu Ehren Kagels, die im Auftrag der Kunststiftung NRW im Herbst geplant sind. Außerdem stehen ein weiteres Schlagzeugkonzert am 8.6. und eine Werkstatt für Wellenfeldsynthese am 27.6. auf dem Programm.

 

Auch im Juni gehen die Jubiläumsveranstaltungen anlässlich Bernd Alois Zimmermanns 100. Todestag weiter. Angekündigt sind ein Vortrag und eine Filmvorführung am 14. und 18.6. in Erftstadt und ein Konzert am 16.6. in Frechen.

 

Als Veranstaltung des Klavier-Festivals Ruhr spielt Elena Bashkirova am 19.6. im Wasserschloss Gartrop in Hünxe Pierre Boulez' Douze Notations.

 

Im Rahmen der Raumklänge 2018 kommt das Multiple Joy[ce] Orchestra am 28.6. nach Leverkusen ins Museum Morsbroich.

 

Im Schlosstheater Moers findet The Suitcase, das aktuelle Projekt des Fonds Experimentelles Musiktheater, am 8. und 9.6. seinen Abschluss.

 

Das zweite Mönchengladbacher Werkstattkonzert befasst sich am 29.6. mit Soldier Tales.

 

Das Klangzeitfestival in Münster wird noch bis 10.6. fortgesetzt. Angekündigt sind ein Konzert mit dem ensemble concord am 1.6., Veranstaltungen der Musikhochschule am 2. und 3.6., elektronische Musik in der Black Box ebenfalls am 3.6. sowie Seven für Violine und Orchester von Péter Eötvös am 5., 6. und 10.6.

 

Auf dem Programm der Raumklänge 2018 in Pulheim-Stommeln stehen ein Konzert mit dem Celloquartett The Octopus am 5.6., eine Klangwanderung am 9.6. und ein Konzert mit dem Duo Strom am 12.6.

 

Das Studio für Neue Musik der Uni Siegen kündigt eine Hommage an Isang Yun am 7.6., einen Abend mit Samuel Adler am 18.6. und ein Konzert in der Martinikirche am 22.6. an.

 

Im Wuppertaler Ableger der Kölner Musikhochschule kann man Gitarrenmusik des 20. Jahrhunderts am 5.6., Echos aus Montepulciano am 7.6. und einen Schlagzeugabend am 12.6. erleben, das Sinfonieorchester Wuppertal spielt am 10. und 11.6. Per Nørgårds Out of this World – Parting und am 16. und 17.6. verwandelt Dan Grimm im Rahmen der Reihe Klangart den Skulpturenpark Waldfrieden in eine Klanglandschaft. Im ort erwarten uns neben dem cine:ort am 1.6. das Free Music Trio am 14.6. und Tatsuru Arai am 29.6.. Weitere Jazztermine finden sich wie üblich bei Jazzage.

 

Zu den seit 2017 erschienenen Gazetten Neue Musik in NRW